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Wie alles anfing

Der Kunde ist König. Weil das unser Credo ist, funktionieren unsere Partys. Immer. Wir spüren, was unsere Partycrowd hören möchte und legen die passenden Tracks auf. Nur punktuell gehen wir Risiko. Neulich in Weinheim katapultierte uns eine Platte in die gute alte Zeit.

Soll ich? Oder soll ich nicht? Ich halte das Vinyl in der Hand, und 1000 Erinnerungen kommen hoch. Meine Erinnerungen. An wilde Partynächte im Dorian Gray, bei denen der Schweiß durch die Tarnnetze von der Decke tropfte. Bei denen ich stundenlang nicht stillstand, ich mich im Rhythmus in Trance tanzte. Aber verbindet auch die heutige Partycrowd, die Freunde von Isa und Philipp, bei Gourmet Berner in Weinstadt, mit diesem irren Track etwas – mit „Krankenhaus“ von „Dr. Pravda“? Auf den früher im „Underworld“ des Dorian Gray (dem Dancefloor im Keller des Flughafen-Clubs) nicht wirklich getanzt, sondern eher gejoggt wurde?

Wir befolgen als DJ-Team eine eiserne Regel. „Stelle nie die persönlichen Musikwünsche vor jene der Partygäste.“ Dass wir sie stets befolgen, ist wohl eines der Erfolgsgeheimnisse von Sound mit Seele, unserem DJ-Team für Veranstaltungen aller Art. So funktionieren unsere Partys. Beim Auflegen immer nach den Leuten gehen. Immer? Ich zögere.

Krankenhaus von Dr. Pravda, das war 1994. Mit welchen Umständen es in dieser Zeit verbunden war, sein aktuelles Lieblingslied zu bekommen, schwirrt es mir durch den Kopf. Das kann sich die Generation Y und Z gar nicht mehr vorstellen. Die Leute hören im Jahr 2019 einen Track, wissen über das Handy sofort, um welchen es sich handelt und können ihn in 99 Prozent der Fälle direkt runterladen, manchmal kostenfrei. Zack, bumm, play. Früher, in den 90ern, als die elektronische Musik in Frankfurt ihren Siegeszug startete, war das noch etwas anders.

„Krankenhaus“ (warum auch immer der Titel so heißt, erschließt sich dem Autor nicht, das ist auch sekundärer Natur) wurde freitags im Dorian Gray aufgelegt. Sonst wahrscheinlich erst mal nirgends. Um an den Namen des Titels zu gelangen, gab es drei Möglichkeiten. Man musste entweder über einen überdurchschnittlich geschulten Sehnerv verfügen. Denn bei der Dunkelheit im Club, durch Stroboskop-Licht und Schwaden aus der Nebelmaschine gekennzeichnet, war es schwer, etwas auf den Turntables des DJs zu entziffern. Zudem drehen sich die Plattenteller bekanntermaßen. Und man musste sowieso erst einmal bis dorthin vorstoßen, über die vollbesetzte Tanzfläche, auf der wirklich überall getanzt wurde.

Die zweite Option, den Namen eines Tracks herauszufinden, kam gar nicht in Frage. Es wäre respektlos gewesen, den DJ zu befragen. Ganz abgesehen vom Mut, den man hätte aufbringen müssen, um Heroes wie Sven Väth, Tom Wax oder Marc Spoon überhaupt anzusprechen.

Also blieb noch Möglichkeit 3: im Plattenladen nach dem Song zu suchen. Genau das tat ich damals. Ich bin erstmals in einen Recordstore gefahren bzw. – eben noch ohne Führerschein – bei einem Kumpel mitgefahren. Weil ich ein Lied suchte, dessen Name ich nicht kannte. Und „Krankenhaus“ befand sich tatsächlich unter den Scheiben, die Andy Düx, Resident-DJ im Dorian Gray, mir in seinem Laden, dem „Now“ in der Nähe des Schillerplatzes in Mainz, in die Hand drückte. Ich hatte ihm zaghaft beschrieben, wie der Track funktionierte – hardcore halt, und nach vorne ging er – und prompt hatte er aus den Regalen hinter der Theke mehrere Vinyls gegriffen, die man sich selbst an einem Turntable via Kopfhörer anhören konnte. Dr. Pravdas Stück dreht sich vor mir. Ich schloss die Augen, nickte im Beat und grinste breit übers ganze Gesicht. Yeah! Den Jubelschrei verkniff ich mir. Wollte ja weiterhin cool rüberkommen unter den DJs im Laden.

Dass ich dann nur einen Plattenspieler meiner Eltern nutzen konnte (bei dem sich der Tonarm per Knopfdruck im Zeitlupentempo automatisch auf die erste Rille des Vinyls senkte) und für diesen Plattenspieler erstmal kein Verstärker existierte, das ist wieder eine andere Geschichte.

Wir legen als Sound mit Seele mit unseren Technics 1210ern auf, und in Weinstadt dreht sich zu später Stunde auf dem einen bereits „Wonderful Day“ von „Charly Lownoise & Mental Theo“. Ein solcher Track ist die absolute Ausnahme auf Hochzeitspartys, denn er gehört in die selten gewünschte Kategorie „Happy Hardcore“ – nicht gerade massenkompatibel. Doch Isa und Philipp feiern gern auf die Musik, das hatten sie uns in der Vorbesprechung gesagt, wir hatten 140bpm+-Scheiben extra ins Case gepackt. Ausgewähltes Original-Vinyl bringen wir neben Timecode-Vinyl, mit dem wir digitale Musik abspielen, auch immer mit. Ich gebe mir einen Ruck, lege „Krankenhaus“ auf. Der Song brettert direkt los, mit allem, was er hat. Der knarzend, hüpfende Bass setzt nach Sekunden schon ein. Mixing nur schwer möglich. Doch die Tanzfläche bebt. Und die Partycrowd hüpft. Der DJ hüpft. Euphorisiert, schließt die Augen, atmet schwer. Immer schwerer. Außer Puste. Wie war es früher nur möglich, auf einen solchen Track minutenlang im Takt mitzugehen und auf den nächsten gleich wieder?

Während ich verschnaufe, Marco übernimmt und die nächste Platte auflegt, frage ich ihn nach seiner ersten Scheibe. Mit der bei ihm alles anfing. „The Look“ von „Roxette“. Okay, ganz andere Baustelle. Lief auf dieser fetten Party nicht mehr. Gehörte, genau genommen, noch nie zu einem Sound-mit-Seele-Set. Aber wenn es uns wieder mal überkommen sollte – wieso nicht!